In einem Dorf, das von der Globalisierung und dem europäischen Regelwerk erfasst wird, ist sozialer Zündstoff garantiert.
Martin Walder
4 min
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Es gibt sinnlichere Filmtitel als diesen. R.M.N. steht rumänisch für MRI, Magnetresonanztomografie.
Aber: MRI-Bilder sind vielschichtig. Sie sind präzise, komplex und unbarmherzig. Genau so ist dieser Film, Szene für Szene, stilistisch hier gleichbedeutend mit Schnitt für Schnitt, schnörkellos aufmerksam in der Handkameraarbeit und dann bedrängend montiert im Takt. Wohl wird einem da nie. «R.M.N.» ist eine Allegorie auf den Zustand Europas an seinen verlorenen Rändern.
Cristian Mungiu (ausgesprochen Munschu) gehört seit seiner Palme d’Or für «4 Jahre, 3 Monate und 2 Tage» zu den führenden Figuren des aufsehenerregenden rumänischen Kinos. Hier bezeugt er wieder einmal, wie das Universelle sich im Lokalen zu erschliessen vermag. Dieses Lokale: ein Dorfkosmos in den Hügeln von Siebenbürgen, am Rande von Wald und Welt, wo noch Bären hausen. Und wo an Umzügen Menschen in Bärenfell oder mit Helm bewehrt lärmen. Ständig Kirchengeläut und Hundegebell in der lichtlosen Luft. Weihnachten steht vor der Tür. Bloss: Advent wohin?
Arbeitskräfte aus Sri Lanka
Die Gemeinde ist erfasst von der Globalisierung und dem europäischen Regelwerk. Von ihm hängen Wirtschaft und Arbeitsplätze ab. Eine industrielle Bäckerei schafft Broterwerb, seit die Goldmine wegen Wasserverschmutzung geschlossen werden musste. Nur dass die Niedrigstlöhne die Leute in den Westen abwandern liessen. Um Subventionen gemäss EU-Quoten zu erhalten, ist man gezwungen, Arbeitskräfte aus Drittstaaten zu Dumpinglöhnen einzustellen. Aus Sri Lanka zum Beispiel. Absurd. Sozialer Zündstoff ist garantiert.
Umso mehr, als sich am Ort im Lauf der Jahrhunderte mehrere ethnische und religiöse Substrate und deren Sprachen bereits überlagert haben – von den ansässigen Rumänen, Ungarn, Sachsen-Deutschen. Sie haben ihre archaischen Traditionen und ebensolche Gefühle in den Herzen und kommen mit der neuen Welt im Westen schwer zurande. Hier erst die Roma, deren man sich endlich entledigt hatte! Und nun diese Dunkelhäutigen – mit ihren Händen in unserem Brotteig?! Heimatliche Besorgnis rutscht gleich ins Nationalistische und Xenophobe. Der Film lässt die Argumente schonungslos, jedoch – und das schafft seine Qualität – nie ohne Einfühlung und Verständnis aufeinanderprallen.
Es ist an einer Dorfversammlung, wo die Wogen schliesslich hochgehen: Mungiu zeigt die Szene in einer einzigen, beklemmenden 17-minütigen Einstellung, die alles Verdrängte und Nichtverdrängte an die Oberfläche spült und einem den Atem auf eine Weise stocken lässt, wie man das bestenfalls von einem Ken Loach kennt. Dass im Übrigen die belgischen Frères Dardenne koproduziert haben, verweist mit darauf, in welcher Art sozial geschärftem Realismus von Autorenkino «R.M.N.» fusst. Vergangenen Mai lief auch er im Wettbewerb von Cannes.
Bis in alle Intimität hinein
Durch den ganzen langen Film ist unter dem bleikalten Himmel Transsilvaniens die globale Verunsicherung mit Händen zu greifen. Alle scheinen von ihr erfasst – und wem wäre das auch hierzulande fremd? Im Mittelpunkt des offenen Plots stehen der aus einem deutschen Schlachtbetrieb geflohene Matthias (Marin Grigore), dann Ana, die von ihm geschiedene Mutter des Söhnchens Rudi, dem es im Wald wegen einer unheimlichen Begegnung die Sprache verschlagen hat. Und schliesslich ist da Matthias’ Ex Csilla (Judith State), die ungarischstämmige Geschäftsführerin der Grossbäckerei. Zu ihr und Rudi sucht der Heimkehrer neuen Kontakt zu knüpfen, aber was für ein trübes, hilfloses, aus der Zeit gefallenes Stück bärtige Männlichkeit ist er. Zunächst.
Allein in Csillas Haus sind die Farben, ist das Licht dieses Films warm, doch die Rotweinflasche mit dem einsamen Glas auf dem Tisch und das melancholische Cellomotiv aus «In the Mood for Love», das die junge Frau intoniert, sprechen – eine Spur zu demonstrativ – für sich. Wie Csilla und Matthias sich dann doch wieder zu begegnen versuchen, kondensiert Cristian Mungiu auf eine Weise, die an den Kern seines Films rührt: Bis in alle Intimität hinein irrlichtert es, wie nicht nur das Neben- und Durcheinander ihrer Muttersprachen zwei Menschen die rechten Worte nicht finden lässt. Wie kein Idiom für das Gegenüber das passende sein will oder kann, weil Welten sie trennen. Und wie das Paar sich so, nackt und bloss auf seiner Liege, am Ende achselzuckend nur in die plumpe Lingua franca zu retten weiss: f*ck me!
Voll von komprimierten Alltäglichkeiten geht «R.M.N.» unter die Haut. Der Film bietet keine Lösung an, kennt keine Lösung und schon gar nicht Erlösung; das MRI, das in der Geschichte eine konkrete Rolle spielt, offenbart das auch. Mungius magistrale Bestandesaufnahme mutet uns in seinen Schlussvolten gar eine Rätselhaftigkeit zu, die irritieren mag. Wir haben sie selbst zu klären.
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