Sinclair McKays Buch über Berlins Geschichte zwischen 1918 und 1989: Eine Kritik (2024)

Berlin sei eine nackte Stadt, eine, die ihre Wunden offen zur Schau stelle, schreibt der britische Autor und Literaturkritiker Sinclair McKay zu Beginn seiner Geschichte über das kurze 20. Jahrhundert zwischen 1918 und 1989, in dem die Stadt untergegangen und nach vielen Jahren am Tropf wiederauferstanden ist. Seinen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Streifzügen durch Berlin hat er einen Satz des Architekten David Chipperfield als Leitidee vorangestellt, demzufolge jede Stadt ihre Geschichte habe, „aber Berlin hat zu viel davon“. Wie aber umgehen mit diesem „Zuviel“? Was hebt man hervor, was lässt man weg?

Zu den Eigentümlichkeiten vieler historischer, biografischer und institutionsgeschichtlicher Rückblicke gehört das Zusammenschnurren des Nationalsozialismus auf eine kurze und dunkle Phase, auf die die Zeit des schweren Anfangs folgt. Obwohl inzwischen keine Geschichtserzählung ohne die Bemerkung auskommt, dass es die „Stunde null“ nicht gegeben habe, erscheint das Jahr 1945 allzu oft als Katharsis, aus der das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein, umso heller hervorgeht. Stadtgeschichten handeln immer auch von Gründungsgeschichten und Kristallisationspunkten des Anfangens.

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Der Wille zum Untergang

Gegen derlei verklärende Bedürfnisse konnte man Ian Kershaws Studie „Das Ende“ (2011) als wirksames Gegengift einsetzen. In schonungsloser Genauigkeit hat er die letzten drei Monate des NS-Regimes als Gewaltgeschichte beschrieben, in der der Wille zum Untergang beinahe jegliche Aussicht auf ein „Danach“ negierte. Aus Keith Lowes „Der wilde Kontinent“ (2014) indes lässt sich lernen, dass 1945 keineswegs einen Schlusspunkt des Gewaltgeschehens markierte. Flucht, Vertreibung, Misstrauen und Verrat prägten ein Lebensgefühl der Unwirtlichkeit, aus dem erst ganz allmählich so etwas wie eine europäische Nachkriegsordnung hervorzugehen vermochte.

Sinclair McKay bezieht sich kaum auf derart wirkungsmächtige Referenzen. Vielmehr versucht er, das Stadtschicksal topografisch zu erschließen. Die sogenannten Flaktürme (in Friedrichshain und am Gesundbrunnen) waren in den letzten Kriegsjahren zu wichtigen Kulminationspunkten geworden, über die Luftangriffe abgewehrt werden sollten. Und als dies kaum noch möglich war, boten sie den Bewohnern durch ihre stahlharten Gehäuse zumindest vorübergehend die Illusion von Schutz.

In den eindrucksvolleren Kapiteln seines Buches taucht McKay ein in den Unterbau einer zerstörten Stadt, die zunehmend daran scheitert, Normalität und Gegenwehr zu simulieren. In dem erst im Herbst 1944 rekrutierten Volkssturm glaubten Adolf Hitlers Gefolgsleute Bormann und Himmler, erfahrene Kampfeinheiten gebildet zu haben, um bei der Zivilbevölkerung Kampfgeist und Entschlossenheit zu wecken. Durch sogenannte Kindermärtyrer sollten zudem Selbstmordanschläge auf die herannahenden sowjetischen Panzer verübt werden. Der Vernichtungskrieg gegen die überfallenen Nachbarn hatte sich längst nach innen gerichtet, und McKay kann überzeugend darstellen, wie verbreitet die Angst vor der mutmaßlichen Grausamkeit der Feinde war, in der nicht zuletzt das Schuldeingeständnis einer verdrängten Brutalität und Verrohung hinter den über Jahre ausagierten nationalistischen Größenvorstellungen zum Vorschein kam.

Sinclair McKay kontrastiert die Geschichte des Niedergangs, die er zum Teil aus Tagebuchbeiträgen und Berichten der Plattform der Berliner Zeitzeugenbörse gewonnen hat, mit jener kurzen Zeitspanne, in der Berlin eine vitale und experimentierfreudige Metropole der Offenheit war, die vielen Neugierigen und Gestrandeten aus aller Welt eine Zuflucht bot. Nach den Jahren der Libertinage, so hat es jedenfalls der Historiker Peter Gay formuliert, folgte auf die „Republik der Außenseiter“ eine Zeit paternalistischer Rache.

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Die vergessenen Kontinuitäten

In dem Bemühen, vielen biografischen Quellen den Vorrang vor geschichtswissenschaftlichen Bilanzen einzuräumen, überanstrengt McKay bisweilen die Aussagekraft seiner Fundstücke. Am überzeugendsten vermag er seine Dramaturgie dort hervortreten zu lassen, wo er auf monströse Kontinuitäten verweist, die die Vorstellungen von 1945 als Zäsur ad absurdum führen.

Bereits vor 1933 war Berlin ein Zentrum revolutionärer naturwissenschaftlicher Forschung, was die Nazis aufgrund ihres wahnhaften Antisemitismus nicht annähernd zu erfassen imstande waren. Der Umstand, dass die entscheidenden Durchbrüche der Atomforschung zum Teil auf die Überlegungen des Juden Albert Einstein zurückgingen, so McKay, sei für die Nazis einfach nicht hinnehmbar gewesen. Zur fatalen Modernität der zeitgenössischen Gewaltpolitik gehört allerdings auch, dass es nach 1945 weder auf sowjetischer noch auf amerikanischer Seite moralische Skrupel gab, die Möglichkeiten der technologischen Errungenschaften weiterzuentwickeln und auszuprobieren.

Die Kuriosität der deutschen Teilung versucht Sinclair am Beispiel des bayerischen Arztes Johannes Muschol zu verdeutlichen, der an Schizophrenie litt. Er war über die Transitstrecke zu Beginn der 80er-Jahre nach West-Berlin gelangt und tauchte irgendwann in einem Ost-Berliner Pflegeheim auf. Es war nicht klar, wie er über die Grenze gekommen war, und so wurde er seitens der DDR-Behörden wieder an den Westen übergeben. Bei dem Versuch, über eine West-Berliner Aussichtsplattform erneut in den Osten zu gelangen, wurde er schließlich auf dem sogenannten Todesstreifen erschossen. Die Stasi begann umgehend damit, den Fall zu vertuschen. Muschols Leichnam wurde eingeäschert, bezahlt wurde dies von dem Geld, das man in seinen Taschen gefunden hatte. Mit dem „Zuviel an Geschichte“ geht oft auch ein „Zuviel an Ordnung“ einher.

Sinclair McKay: Berlin 1918–1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte.Harper Collins, 555 Seiten, 28 Euro

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